Menschlich wie Tante Emma, digital wie Amazon

Der vernetzte Kunde erwartet vernetzten Handel und Einkaufserlebnisse

Sascha Hackstein sprach mit Stephan Wegerer, Speaker, Autor und Berater, über die Entwicklungen im Handel. Dabei geht es unter anderem um Trends, Service, Kundenerwartungen, Datennutzung, Agilität, die Bedeutung von Marken und die Veränderungen in der Wertschöpfungskette.

Sascha Hackstein : Wachstum ist für Konsumgüterunternehmen essentiell, aber das organische Wachstum nimmt in der gesamten Branche ab. Kunden und Wettbewerber ändern sich rasant, Marken vergehen und entstehen. Gleichzeitig verändert der Vormarsch der digitalen Technologien die Konsumgewohnheiten und den Wettbewerb der Unternehmen grundlegend.

Stephan Wegerer: Die Branche Konsumgüter und Handel sieht sich mit zunehmender Komplexität der globalen Lieferketten, einer Verschärfung des digitalen Wettbewerbs und der Fragmentierung der Verbrauchermärkte konfrontiert. Hinzu kommt eine deutliche Veränderung der Art und Weise wie Verbraucher einkaufen und wie sie angesprochen werden müssen, um ihre Einstellungen und Käufe zu beeinflussen. Wer am umkämpften Konsumgütermarkt als Händler oder Produzent bestehen will, benötigt Schnelligkeit, Innovationskraft, Kreativität und eine schnelle Umsetzung der Transformationsvorhaben.

So ist zum Beispiel die Verschmelzung von Online- und Offline-Kanälen zu einem Schlüsselfaktor und verpflichtend für Handel und Produzenten geworden. Verbraucher unterscheiden nicht mehr zwischen Online- und Offline-Kanälen, sondern kaufen kanalübergreifend ein. Viele Unternehmen und Marken haben bereits verstanden, wie man eine digitale Strategie nutzen muss, um das Markenbewusstsein zu steigern, aber nur wenige von ihnen haben eine komplette Omnichannel-Strategie entwickelt. Sie müssen noch viele Aufgaben angehen, um eine funktionierende Geschäfts- und IT-Infrastruktur zu schaffen, die ein erfolgreiches Omnichannel-Kundenerlebnis ermöglicht. Die Unternehmen müssen ihre Geschäftsmodelle überdenken und weiterentwickeln.

Die Individualisierung des Angebots ebenso wie die Preistransparenz und die Bedeutung von Service sind die Hebel, die den guten Einzelhändler vom schlechten unterscheiden werden. Für Einzelhändler wird der Weg raus aus dem Hexenkessel die Nische sein. So können sie sich auch auf Plattformen behaupten, ohne selbst online aktiv zu werden. Die meisten Websites und kleinen E-Shops haben am Markt für den Kunden, mit Ausnahme von Produkten, die es nur dort zu kaufen gibt, sowieso keine Relevanz

Sascha Hackstein: Der Handel sah sich in den vergangenen Jahren disruptiven Entwicklungen ausgesetzt. Überall wird über die neuen digitalen Wettbewerber geklagt. Für den Handel steht viel auf dem Spiel. Viele Händler investieren in E-Shops und haben nur wenig Erfolg damit. Wo sehen Sie die größten Chancen?

Stephan Wegerer: Der Handel muss eindeutig in die Datenqualität investieren, denn die Datenzentrierung ist eine der prägendsten Entwicklungen und gleichzeitig die größte Chance. Nur wer über präzise Daten über den Kunden und sein Verhalten verfügt, kann sich den direkten Zugang zum Kunden sichern und ist dadurch überhaupt in der Lage, den Kunden individuell mit den für ihn relevanten Inhalten (Ansprache und Lösung) zu bedienen. Die Zeiten, in der mit der Gießkanne Marketingtexte oder auch Produkte und Dienstleistungen an den Mann oder die Frau gebracht wurden, sind längst passé. Das gilt nicht nur, aber ganz besonders für den Consumer-Bereich.

Mit der Datenqualität hapert es aber meistens. Viele Unternehmen haben zwar die Relevanz von Daten erkannt, aber machen sich keine Gedanken über die Qualität der gesammelten Daten. Überall gibt es jede Menge Datenmüll. Hinzu kommen andere Probleme wie die DSGVO. Wenn sich der Kunde vom Newsletter abmeldet, ist er als Kunde verschwunden.

Sascha Hackstein: Der Handel hat eine Zwischenfunktion in der Wertschöpfung, die die Margen der Hersteller mindert und den Kunden Geld kostet. Dasselbe gilt für Deutschlands 110.000 Großhandelsunternehmen. Hat der Handel in seiner Sandwich-Position zwischen Hersteller und Kunde überhaupt noch eine Chance?

Stepan Wegerer: Der Handel verfügte bisher über das Know-how über den Kunden und reduzierte die Marge der Hersteller in jeder Branche. Wer etwas anbieten möchte, das dem Kunden nützt, muss zwingend den Kunden kennen. Dabei helfen ihm mittlerweile digitale Tools. Deshalb lautet die Devise der Hersteller zunehmend  „cut the middleman“. Wenn es dem Handel nicht gelingt, die Kundenschnittstelle zu behalten, durch außergewöhnlich gute Services deutliche Mehrwerte für den Kunden zu schaffen oder sich auf Plattformen zu platzieren, hat er tatsächlich nur wenige Chancen. Überleben wird nur derjenige, der Nutzen stiftet. Sobald dieser nicht ausreichend groß ist, verliert der jeweilige Einzelhändler seine Daseinsberechtigung. Wichtig ist bei allen Modellen, dass der Handel auf allen Kanälen, die der Kunde benutzen möchte, präsent ist und ihm an allen Berührungspunkten ein optimales Erlebnis bietet. Ohne entsprechende Daten wird das nicht funktionieren.

Sascha Hackstein: Das heißt, der Handel mit seiner bisherigen Kompetenz, der persönlichen Beratung, hat schlechte Karten …

Stephan Wegerer: Das würde ich so nicht sagen. Professionelle, persönliche Beratung ist ja ein beispielhafter Nutzen für den Kunden, hier im Offline-Kanal, „persönlich vor Ort“.

Wir denken viel zu oft in Offline versus Online. In der persönlichen Beratung – im Gespräch – erhält der Händler vom Kunden viele kostenlose Informationen, zum Beispiel, welches Problem er gelöst haben will. Der Händler wiederum nutzt seine individuelle Beratungskompetenz, um dem Kunden die ideale Lösung für genau dieses Problem, und damit einen Mehrwert, zu schaffen. Das führt  idealerweise zum Kauf, womit auch der direkte Nutzen für den Händler gegeben ist. Genau dieses aus der Offline-Welt bekannte Vorgehen gilt es nun für weitere, für den Kunden relevante Kanäle wie  Website, Newsletter, Telefon, Online-Shop etc. zu denken. Hier wird es wichtig, die Information, die aus der Beratung entsteht, idealerweise digital zu dokumentieren, um sie dann für das gesamte Unternehmen nutzbar zu machen. Welche Kanäle letztlich relevant sind, entscheidet der Kunde.

Die Technologie ist dazu da, den Menschen zu unterstützen, damit er seine „menschlichen“ Fähigkeiten, Empathie und Kreativität, bestmöglich einsetzen kann, um dem Kunden zu dienen. Der persönliche Kontakt spielt eine enorm wichtige Rolle, aber auf einem anderen Niveau. Zum Beispiel braucht niemand mehr reine „Bestellabholer“ im Vertrieb, sondern echte Markenbotschafter und Kundenbeziehungsmanager.

Sascha Hackstein: Stationäre Händler, die zu Erlebniscentern für ihre Kunden werden, können durchaus wachsen. Dort können Kunden Produkte testen und Marken erleben oder verweilen. Nicht umsonst richten Buchläden Cafés ein, veranstalten Lesungen und Kindernachmittage oder bieten Schreibwerkstätten an. In Sportgeschäften gibt es Laufbänder, Kletterwände, Wanderstrecken mit verschiedenem Untergrund oder Nasszellen zum Testen der Dichtigkeit von Regenbekleidung. Märklin lockt den Endkunden mit Märklin TV, Modelleisenbahn-Ausstellungen, einem Club, ab Mai 2020 mit dem „Märklineum“, einer Kombination aus Ausstellung, Store und Bistro. Gepaart mit hoher Beratungs- und Verkaufskompetenz des Personals, konstanter Kommunikation, je nach Geschäftsfeld mit tiefer Kenntnis der regionalen Gegebenheiten und schneller Lieferung sind dies Erfolgsfaktoren. Erfolgsentscheidend sind dabei in erster Linie Führung und Mitarbeiter sowie Services.

Mit Blick auf die Zukunft rate ich dem Einzelhandel jedoch, auch an seiner digitalen Kompetenz zu arbeiten, denn der Kunde handelt vernetzt und erwartet das zunehmend vom stationären Handel. Erlebnis und menschliche Begegnung müssen mit digitaler Kompetenz kombiniert werden: menschlich wie Tante Emma, digital wie Amazon.

Aug 1, 2019
Sascha Hackstein
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